Dämonkratie - niemand entscheidet


Es wird im folgenden gezeigt, daß Politikverdrossenheit in Deutschland nicht nur keine Fehlleistung, sondern der schöne Ausdruck einer, wenn auch vielleicht nur intuitiv gespürten grundrichtigen Einsicht ist, daß nämlich das Willensbildungssystem, das wir unter dem Namen einer “parlamentarischen Demokratie” kennen und fürchten gelernt haben, nicht irgendwelcher aktueller Bedingungen wegen, die man verändern könnte, sondern aus sich selbst, aus seiner inneren sachlich-systematischen Verfaßtheit, heraus als ein Grundfehler, ja als einer der schrecklichsten Irrtümer des Abendlandes verstanden und in wenigen Schritten wie folgt beschrieben werden kann.
Die erste Frage lautet: “Wer ist in diesem System wirklich verantwortlich?” Das ist die Grundfrage, die funktionale Antwort lautet:
“Verantwortlich ist der, der entscheidet.” – Deshalb die zweite Frage:
“Und wer entscheidet?”
Legen wir einmal eine Lupe auf das Prozedere der “Entscheidung”, werden wir völlig überrascht feststellen, daß in demokratischem Prozedere tatsächlich niemand entscheidet, niemand wirklich die Entscheidung trifft und daß deshalb auch niemand verantwortlich ist. Überraschend ist das deshalb, weil wir doch gelernt haben, daß im demokratischen Prozedere wir alle mit entscheiden. Näher besehen, ist diese Mit-Entscheidung eine schöne Täuschung. Das demokratische Verfahren ist die Abstimmung, sie ist das Herz des ganzen Systems. Die Frage lautet also:
“Wer entscheidet bei der Abstimmung?”
Die klassische Antwort: “Jeder, der an der Abstimmung teilnimmt.” Das ist, allgemein gesprochen, zwar richtig, doch muß man noch genauer fragen: “Worüber bestimmt denn jeder, der an einer Abstimmung teilnimmt?” oder “Was genau ist es denn, was er entscheidet?” Die Antwort lautet:
“Jeder, der an einer Abstimmung teilnimmt, bestimmt darüber, wem er die Stimme gibt.” Genau das ist es, was jeder entscheidet.
Aha, das ist wirklich interessant. Im demokratischen Verfahren der Abstimmung entscheidet jeder daran Teilnehmende nur über den Gebrauch seiner Stimme, d. i., wem er die Stimme gibt. Die entscheidende Frage nun:
“Und wer entscheidet die zur Abstimmung stehende Sache?” – Bitte vergessen wir nicht: Die zur Abstimmung stehende Sache ist ja das, worum es geht. Wer entscheidet sie? So überraschend es uns auch erscheint, die klare unvermeidbare Antwort lautet.
“Niemand.”
Niemand entscheidet in einer Abstimmung die zur Abstimmung stehende Sache selbst. Jeder, der teilnimmt, entscheidet nur, wem er die Stimme gibt, für was er stimmt, mehr nicht. Die zur Abstimmung stehende Sache selbst aber bleibt gänzlich unentschieden. Das bedeutet, daß das System der parlamentarischen Demokratie einen strukturellen Mangel hat: Dort, wo wirklich entschieden werden müßte, klafft ein riesengroßes schwarzes Loch. Und durch dieses Loch krabbeln Ratten, Skorpione und Lobbyisten. Das ganze System, das auf dem Verfahren der Abstimmung ruht, ist unvernünftig und ehrlos, geradezu kriminell. Das so hochgelobte Verfahren der Demokratie wird hier als das erkennbar, was es ist, als die Herrschaft eines großen schwarzen Lochs. Dämonkratie! – Der Einwand lautet:
“Aber, aber, es hat doch bei einer Abstimmung die Mehrheit entschieden.”
Da fragt sich: “Die Mehrheit”? – was ist denn das? Die Mehrheit ist eine bloße Metapher. Sie ist kein wirkliches Subjekt und kann nicht Träger einer Entscheidung sein und Verantwortung tragen. Das Ergebnis einer Abstimmung kann nicht “Entscheidung” genannt werden, da es nur das Produkt einer mathematischen Operation ist, der Rechenschieber keinerlei Verantwortung trägt. Entscheiden kann nur ein wirkliches Subjekt, und zwar immer nur ein einziger, nämlich der, der, wenn er sagt, “es soll A gelten”, damit bestimmt, daß A gilt, der, wenn er aber “B” sagt, damit bestimmt, daß anstelle von A nun B gilt. Nur jemand, der über beide Möglichkeiten abwägend verfügt, von dem kann man sagen, er entscheidet. Wenn er im Modus der Abwägung beider Möglichkeiten über die Verwirklichung eines der beiden durch Willensakt verfügen kann und wirklich verfügt, dann macht er tatsächlich das, was man „eine Entscheidung treffen“ nennt. Und er ist auch verantwortlich. Ihm gegenüber trägt jemand, der bloß an einer Abstimmung teilnimmt und nur für das eine oder das andere „stimmen“ kann, für das Ergebnis der Abstimmung keinerlei Verantwortung.
Ahnen wir hier, welche Abgründe sich da auftun? Niemand trägt gemäß demokratischem Verfahren, „Abstimmung“ genannt, Verantwortung. Und dies gilt überraschenderweise sogar für den Fall, daß am Ende haargenau das als Ergebnis herauskommt, für das er gestimmt hatte. Auch in diesem Fall ist er – man glaubt es kaum – nicht verantwortlich. – [Wer einen Exkurs zur Überprüfung dieses Gedankens unternehmen möchte, kann ja einmal der Frage nachgehen, wer der 502 Richter, deren Abstimmung dazu geführt hat, daß einst Sokrates den Giftbecher hatte trinken müssen, denn die Verantwortung trägt. (x) Die 220 Richter, die dagegen gestimmt hatten? (y) Die 281 Richter, die dafür gestimmt hatten? oder: (z) Niemand von ihnen?]
So überraschend es auch auf den ersten Blick erscheint: Legt man einmal eine Lupe vor das Herzstück demokratischen Prozederes, die Abstimmung, so findet sich, daß in diesem System gar nicht entschieden wird. Und weil das so ist, trägt auch niemand Verantwortung. Auch die, die für etwas stimmen, das sich dann als fehlerhaft, gefährlich oder schadenstiftend erweist, sind für die Entstehung des Schadens nicht verantwortlich, weil sie es nicht entschieden, sondern nur dafür gestimmt haben.
Weil in der Demokratie, so sie sich an ihre eigenen Spielregeln hält, in dezidiertem Sinne niemand verantwortlich ist, ist es ein ehrloses und Ehrlosigkeit förderndes System, eine Einladung zu Korruption und Lobbyistentum. Hatten griechische Philosophen die Demokratie als die beste der schlechten Verfassungen bezeichnet, so zeigt sich nun angesichts des entscheidungsblinden Flecks im Herzen des Systems, daß sie keineswegs die beste der schlechten, sondern die in dezidiertem Sinne nurmehr am besten schlechte ist; eine Verfassung, die auf so verfeinert raffinierte Art schlecht ist, daß ein nach ihren Prinzipien organisierter Staat jede Art von Korruption und Ehrlosigkeit befördert, die wirklichen Probleme aber ungelöst läßt und den Charakter der Menschen verdirbt. Und dies muß, wenn es denn mit rechten Dingen zugeht, früher oder später zu dem führen, was man “Politikverdrossenheit” nennt.
Ergebnis: Politikverdrossenheit hat hier und heute einen guten Sinn – quod erat demonstrandum -, weil das geltende System der parlamentarischen Demokratie selbst ein verderbtes System ist, in dem niemand Verantwortung trägt. Deshalb ein “Bravo!” allen Politikverdrossenen. Sie haben die Sache, wenn auch vielleicht zunächst nur intuitiv, sauber durchschaut!
Die schöne fortführende Anschlußfrage würde lauten: Wie müßte denn ein System beschaffen sein, in dem wirklich entschieden, in dem wirklich Verantwortung getragen wird, ein System, das schön und ehrenvoll ist, den guten Charakter der Teilhaber an ihm befördert? Dies wäre die Frage für den nächsten Blog-Karneval Politik. Eine Antwort hätte ich ja schon. ;-).
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Siehe auch: Entscheidung, der blinde Fleck im demokratischen System
und: Warum wir den König lieben – Ein familieninternes Streitgespräch über die schönste Verfassung und den König in jedem Mann]]>