War Judas an Jesu Stelle gekreuzigt worden?


Neue Ergebnisse der Barnabas-Forschung wecken Zweifel an einem der wesentlichen Dogmen der abendländischen Christenheit. Danach hatte nicht der Herr Jesus, der Friede sei auf ihm, sondern der Verräter Judas Ischariot den Leidensweg zwischen Pontius und Pilatus beschritten, und auch er wäre es gewesen, der schließlich gekreuzigt worden war. Was auf den ersten Blick als völlig unglaublich erscheinen könnte, erweist sich auf den zweiten nicht nur als möglich, sondern  gar als die gerechte Folge von Ereignissen, die nach dem Prinzip "Wer ander'n eine Grube gräbt, fällt selbst hinein." unbeirrt ihren Weg in die Wirklichkeit gefunden haben.
Während der Koran nur sagt, daß Jesus nicht getötet und nicht gekreuzigt wurde, es ihnen damals vielmehr nur so „erschienen“ war („wa lakin shubbiha lahum“ (4:157)), liegt die Brisanz des mehrere hundert Jahre älteren Zeugnisses des Apo-stels Barnabas gerade darin, daß es ganz genau erzählt, was es mit jenem Anschein auf sich hat und wie es dazu kam, daß in Wahrheit Judas Ischariot an der Stelle Jesu gekreuzigt wurde (vgl. Kap. 215 ff.).
Religionswissenschaftler und Kenner alter Sprachen – Luigi Cirillo und Paul Fremaux, Shlomo Pinés, Henri Corbin, Jan Joosten sowie H. J. Schoeps – hatten das Werk als authentischen Ausdruck judenchristlicher Tradition wiederentdeckt. Bezeugen eindeutige Belege der Nähe des Barnabas-Evangeliums zu Tatians Diatessaron aus dem zweiten Jahrhundert sein hohes Alter, so verweist die Stellung des Gleichnisses von der Sünderin innerhalb der Lebensgeschichte Jesu und eine ihaltliche Besonderheit darin unab-weisbar auf die Nazaräerversion des Hebräer-Evangeliums. Denn jener Spiegel, den Jesus „mit dem Finger … auf den Boden“ zeichnet (Kap. 2o1), worin die Leute sich als Sünder erkennen, kommt nur bei Barnabas und in jener vom „Herrenbruder“ Matthäus verfaßten biblischen Urform vor, die unter dem Namen Nazaräer bekannt, aber leider nur in Fragmenten erhalten ist. So verstanden, besteht die reale Möglichkeit, daß das hier herausgegebene Werk im wesentlichen nichts Geringeres als die Bibel an sich, Grundlage aller biblischen Überlieferungen ist. – Der Apostel Barnabas soll es von seinem Bruder Matthäus geschenkt bekommen haben, der „als erster die Worte des Herrn verzeichnete“, wie Apostelschüler Papias i. J. 120 AD schrieb.
Jetzt verstehen wir die besondere Hochachtung, die Sheikh Nazım Efendi diesem heiligen Buch entgegenbrachte, als es ihm vor zwanzig Jahren in der von Lonsdale und Laura Ragg besorgten italienisch-englischen Erstausgabe von 1907 vorgelegt wurde. Als er es wider Erwarten noch ungeöffnet fand, nachdem es fast ein Jahrhundert im Thelogischen Seminar der Universität Freiburg i. Br. geruht hatte, sagte er: ‘They didn’t cut it, they fear the truth.’ – Er regte den Spohr Verlag damals zur Herausgabe des Werkes in deutscher Sprache an, eines Buches, das auch von Muslimen in seinem wahren Wert bis heute sträflich unterschätzt geblieben ist, obwohl es für sie doch keinen Grund gibt, seine Wahrheit zu fürchten.]]>