Vor 200 Jahren: die wahhabitische Plünderung von Karbala


Zu den grausamsten Taten der modernen islamischen Geschichte gehört die Plünderung von Karbala im Jahr 1802. Leider ist dies den meisten Muslimen nach wie vor kaum bekannt. In einer Zeit, in der das kulturelle und religiöse Erbe der muslimischen Welt wieder einmal ernsthaft bedroht ist, in der Schreine und Moscheen von selbsternannten heiligen Kriegern und Kalifen unserer Zeit mit Bulldozern niedergewalzt werden, ist es jedoch wichtiger denn je, sich mit diesen historischen Ereignissen vertraut zu machen. 
Es ist wichtig zu wissen, daß die Wahhabiten — nicht anders als die heutigen Militanten — von einer Mischung aus religiösem Eifer und dem Wunsch nach Reichtum inspiriert waren. Bis 1802 hatte der wahhabitisch-saudische Staat den größten Teil der arabischen Halbinsel unter seine Kontrolle gebracht und konnte sogar in den Südirak eindringen, der damals unter osmanischer Kontrolle stand. Eines der schlimmsten Massaker wurde im April 1802 in Karbala verübt, kurz vor Beginn des heiligen Monats Muharram, während der Pilgerfahrt zum Schrein von Imam al-Husayn b. Ali (gest. 680). Es folgen zwei Berichte, einer von einem Augenzeugen, einem nicht-muslimischen Franzosen, und der andere von einem wahhabitischen Propagandisten, der im Arabien des achtzehnten Jahrhunderts schrieb.
Nach dem Bericht eines Augenzeugen, J.B. Rousseau in seiner Description du Pachalik du Baghdad Suivie d'une Notice Historique sur les Wahabis (Paris, 1809), haben sich die Ereignisse wie folgt abgespielt:
"Ein schreckliches Beispiel für den grausamen Fanatismus der Wahhabiten haben wir kürzlich im schrecklichen Schicksal der Moschee von Imam Husayn gesehen. Es war bekannt, dass sich in dieser Stadt unglaubliche Reichtümer angesammelt hatten. Die persischen Schahs haben so etwas vielleicht noch nie in ihrer Schatzkammer gehabt. Die Moschee von Imam Husayn war jahrhundertelang dafür bekannt, dass sie Spenden von Silber, Gold, Juwelen und einer großen Menge an Raritäten erhielt... Tamerlane verschonte sogar diesen Ort. Jeder wußte, daß der größte Teil der reichen Beute, die Nadir Schah von seinem Indienfeldzug mitgebracht hatte, zusammen mit seinem eigenen Reichtum den Moscheen von Imam Husayn und Imam Ali übergeben worden war. Der enorme Reichtum, der sich dort angesammelt hat, erregt seit einiger Zeit die Begehrlichkeiten der Wahhabiten. Sie träumten ständig davon, diese Stadt [Karbala] zu plündern, und waren sich des Erfolgs so sicher, daß ihre Gläubiger die Zahlung der Schulden auf den glücklichen Tag festlegten, an dem sich ihre Hoffnungen erfüllen würden.
Dieser Tag kam schließlich... 12.000 Wahhabiten griffen plötzlich die Moschee von Imam Husayn an; nachdem sie mehr Beute gemacht hatten, als sie jemals bei ihren größten Siegen erbeutet hatten, setzten sie alles in Brand und schlugen es mit dem Schwert nieder... Die Alten, die Frauen und die Kinder: sie alle starben durch das Schwert der Barbaren. Außerdem heißt es, daß sie, wann immer sie eine schwangere Frau sahen, diese ausweideten und den Fötus auf dem blutenden Leichnam der Mutter zurückließen. Ihre Grausamkeit konnte nicht gestillt werden, sie hörten nicht auf zu morden, und das Blut floss wie Wasser. Infolge der blutigen Katastrophe kamen mehr als 4000 Menschen ums Leben. Die Wahhabiten trugen ihre Beute auf den Rücken von 4000 Kamelen davon. Nach den Plünderungen und Morden zerstörten sie das Heiligtum des Imams und verwandelten es in einen Graben voller Abscheu und Blut. Den größten Schaden richteten sie an den Minaretten und den Kuppeln an, weil sie glaubten, diese seien aus goldenen Ziegeln gemacht." (Rosseau, Beschreibung, S. 74-75)
Eine andere zeitgenössische Quelle, Uthman b. Abd Allah b. Bishr (gest. 1872) in seinem Unwan al-Majd fi Tarikh Najd (Mekka, 1930), der aus wahhabitischer Sicht geschrieben wurde, gibt einen ähnlichen Bericht:
"Im Jahr 1802 zog Ibn Sa'ud mit seinem siegreichen Heer, berühmten Rassepferden, allen Siedlern und Beduinen des Nadschd, den Bewohnern von Dschanub, Hidschas, Tihama und anderen nach Karbala... Die Muslime [d.h. die Wahhabiten] umzingelten Karbala und nahmen es im Sturm. Sie töteten die meisten Menschen in den Häusern und auf den Märkten. Sie zerstörten die Kuppel über dem Grab von al-Husayn. Sie nahmen alles mit, was sie im Schrein und in seiner Nähe sahen, einschließlich der mit Smaragden, Saphiren und Perlen verzierten Decke, die das Grab bedeckte. Sie nahmen alles mit, was sie in der Stadt fanden: Besitztümer, Waffen, Kleider, Stoffe, Gold, Silber und wertvolle Bücher. Man kann die Beute nicht einmal aufzählen! Sie blieben nur einen Vormittag dort und verließen die Stadt nach dem Mittag, wobei sie alle Besitztümer mitnahmen. Fast 2000 Menschen wurden in Karbala getötet." (Ibn Bishr, Unwan al-Majd, Bd. 1, S. 121-122)
Viele dieser Details werden durch andere zeitgenössische Quellen, sowohl muslimische als auch nicht-muslimische, bestätigt, die ebenfalls betonen, wie Tausende von Muslimen von den Wahhabiten in Karbala abgeschlachtet wurden. Vor allem aber zeigt die Plünderung von Karbala, wie die beiden Motive der Wahhabiten - Anhäufung von Reichtum und Zerstörung von Heiligtümern - Hand in Hand gingen. Der Eroberungsprozeß der Wahhabiten in anderen Gebieten, vor allem in Ta'if und im Hijaz, verlief nach einem ähnlichen Muster wie in Karbala. Obwohl die Wahhabiten kurz darauf (um 1818) von den Osmanen und der Dynastie von Muhammad Ali Pascha in Ägypten besiegt wurden, erlebten sie später im Jahrhundert ein Wiederaufleben.
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Der englischsprachige Originaltext findet sich hier: https://ballandalus.wordpress.com/2014/08/02/the-wahhabi-sack-of-karbala-1802-a-d/