"DER WEG DER MEISTER" – Kritik einer F.A.Z.-Besprechung

Auch wenn ich mich als Verleger des besprochenen Buches über die wohlwollende Besprechung in der          F. A. Z. gefreut habe, gibt es doch einen wichtigen Punkt grundsätzlicher Kritik daran, den ich im folgenden ausführe.
Wolfgang Günter Lerch hat in der F.A.Z. vom 30. 10. 2012 das Buch von M. Hisham Kabbani “Der Weg der Meister – Geschichte und Vermächtnis der erhabenen Großscheichs des Naqshbandi-Ordens” unter dem Titel “Das Herz des Menschen ist sein Sultan” ausführlich und durchaus wohlwollend besprochen (vgl. hier •••). Dabei ist ihm indes ein grundlegender Fehler unterlaufen, der seiner Verbreitetheit unter Islamverstehern und seiner inneren Brisanz wegen es verdiente, einmal näher betrachtet zu werden.
Schon Frau Annemarie Schimmel, Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels, hatte die Sufis, die Mystiker des Islams, immer wieder als solche beschrieben, die gegenüber dem “äußeren Gesetz” der Scharia die Innerlichkeit pflegen. So spricht auch Rezensent Lerch unter dem Zwischentitel “Vom Dogma abgewichen” davon, daß der Sufismus der “innerliche Islam” sei, dessen Glaube “weniger Geboten und gesetzesförmigen Anordnungen, sondern dem Ruf des Herzens” folge. “Der innere Weg (tariqa) und das Erfahren der Wahrheit (haqiqa)”, so der Rezensent, seien dem Sufi “allemal wichtiger als das Gesetz (scharia), das aus der Religion Politik” mache.
In diesen Sätzen drückt sich, wenn auch durch die Form der Graduierung von mehr oder weniger gemildert, eine im Prinzip ganz falsche Vorstellung aus. Weder ist das Sufitum rein Innerliches, noch die Scharia, das Göttliche Gesetz, etwas rein Äußerliches. Und der Naqshbandi-Orden folgt in den Jahrhunderten seines Bestehens strikt dem Göttlichen Gesetz, das übrigens auch ganz falsch beschrieben wird, wenn man sagt, es mache aus Religion Politik. Wenn ein Naqshbandi-Schüler sich, dem Vorbild (der Sunna) des Propheten folgend, frühmorgens vor dem Frühgebet beispielsweise auf den Boden legt und ein paar Momente lang an seinen eigenen Tod denkt – inna li-llâhi wa inna ilayhi rajiûn (“Wahrlich, wir stammen von Gott und sind auf der Rückreise zu Ihm.”) -, dann hat das etwas Inneres (den Gedanken) und zugleich etwas Äußeres (das Sich-Hinlegen).
Und so ist es überall dort, wo ein Ritual, überall dort, wo Religion überhaupt stattfindet, es ist immer eine Verbindung von Innerem und Äußerem. Das galt und gilt auch für jene Fronleichnams-Prozession im tiefen Hochschwarzwald, über die ich vor Jahren einmal als Reporter des “Schwarzwälder Boten” hatte berichten dürfen. Das gilt sogar für das Gottgedenken, den Dhikr, selbst, den man nur fälsch­licherweise für etwas rein Innerliches halten möchte, wenn der Naqshbandi-Schüler beispielsweise den Göttlichen Namen “Allâh” fünftausendmal mit der Zunge und dann fünftausendmal mit dem Herzen ausspricht. Hier gibt es Äußeres und Inneres neben- oder hintereinander, und es ist sinnlos, ja in gröbster Weise irreführend, das Sufitum mit dem Etikett des “Inneren”, den Islam insgesamt dagegen mit dem des “Äußeren” oder das Sufitum mit dem Prädikat des Herzens zu versehen, dies aber der Religion des Islams insgesamt zu verweigern.
Jedem Katholiken ist sein Glaube eine Herzensangelegenheit, weil jede Religion und der christliche Glaube eis ipsis mit dem Herzen verbunden sind, was sich schon rein sprachlich daran zeigt, daß beispielsweise das lateinische Wort für Herz, nämlich “cor, cordis”, und das Wort für glauben, “credo”, derselben Wurzel (c-r-d) entspringen, eine Etymologie, die sich überraschenderweise auch im Deutschen findet, wenn man zum deutschen “Glauben” noch das arabische Wort für Herz, nämlich “qalb”, heranzieht.
Ist es also ein schon rein sprachlich belegtes Merkmal von Religion überhaupt, mit dem Herzen verbunden zu sein, ist der Hinweis auf diese Verbindung in der islamischen Mystik nurmehr trivial. Irreführend aber ist es, wenn man den islamischen Orden unter der Prämisse der Wichtigkeit des Herzens absprechen will, der Scharia, dem Göttlichen Gesetz, zu folgen. Dies ergibt sich schon aus der Bestimmung, daß die Scharia den Weg zum Haus des Herrn, Tariqat aber den Weg zum Herrn des Hauses beschreibt. Denn wie ohne eine Kenntnis des Weges zum Haus des Herrn der Weg zum Herrn des Hauses nicht gefunden werden kann, so bedarf der Sufi wie jeder Muslim dringend der Scharia.
Daß sie dieses Gesetz für gering achten würden, könnte wohl ernsthaft nur von einem vertreten werden, der den Islam bei Wahhabiten und Salafiten gelernt hat oder der Sichtweise jenes Verbrechers folgt, der sich “Vater der Türken” hat nennen und Tausende und aber Tausende von frommen Derwischen hat ermorden lassen. Dorthin paßt auch die merkwürdige Rede jenes vom Rezensenten strapazierten “Dunkelmännertums” dieser wunderbaren Leute, eine Rede, die auch den Kommentar der online-Fassung jener Rezension von Gabi Heintz plausibel macht, die geschrieben hatte:
“… Begreiflich, daß Sufis als Häretiker gelten.” Die Frage ist: Wo sind denn die genannten “vielen”, die die Sufis in so schlechtem Lichte sehen, da sie doch im Gegenteil bis heute unter der Mehrheit der Muslime in Ost und West sich größten Respektes und größter Sympathie erfreuen?
Vor dem Hintergrund einer in Deutschland immer stärker werdenden Wahhabi-Salafi-Aktivität hätte sich gerade mit der Rezension dieses Grundbuches islamischer Spiritualität die Möglichkeit geboten, den Blick der Öffent­lichkeit einmal dafür zu schärfen, daß der Islam als solcher (einschließlich der Scharia) wesentlich eine spirituelle Angelegenheit ist und er daraus, daß er es ist, seine eigentliche Kraft und seine Schönheit schöpft.
Es hätte klargemacht werden können, daß diesem sich seiner spirituellen Grundlagen bewußten Islam und der Mehrheit des „ahlu-s-unna wa l-jamâ‘â“ gegenüber jene salafitischen Extrempositionen kein Ausdruck von „Strenggläubigkeit“ sind, wie immer wieder von westlichen Islamwissenschaftlern und Journalisten angenommen wird, sondern bloß von Verrücktheit, die nicht theologisch, sondern psychopathologisch verstanden werden muß. Drückte ich beispielsweise dem Leser dieser Zeilen meinen Dank für sein Interesse aus, würden Wahhabi-Leute protestieren und sagen, man dürfe sich nicht bei Menschen, sondern „nur bei Allah“ bedanken. Und während einige sie deshalb für „strenggläubig“ hielten, zeigt sich darin doch, einmal näher besehen, nur eine vitale Gestörtheit ihrer Urteilskraft. Denn jene Forderung, sich allein bei Allah zu bedanken, ist nicht ein Zeichen starken Glaubens, sondern von Unmenschlichkeit und Tyrannei.
Wie erfrischend demgegenüber das Zeugnis des Propheten Muhammad – der Friede sei auf ihm und den Seinen und Segen -, der erklärt hatte: „Bedanke dich bei den Menschen, dann lernst du den Dank Allâh gegenüber.“ Das ist wohlaustariert und zeigt die Menschlichkeit des Propheten (s) und des wahren Islam.
Daß Herr Lerch die Gelegenheit versäumte, jene geistig Gestörten des Wahhabi-Salafi-Komplexes auf die Plätze zu verweisen, ist die eine Seite, schlimmer indes ist es, daß er es auf der anderen Seite versäumte, seinen Lesern eine Ahnung von der Schönheit und Weisheit und auch der spirituellen Macht jener Großscheichs zu vermitteln, deren Geschichten das besprochene Buch erzählt.
Das hier erstmals in deutscher Sprache gerade erschienene Buch von M. Hisham Kabbani „Der Weg der Meister“ erzählt die Geschichte des ehrenwerten Naqshbandi-Ordens im Spiegel der Lebensgeschichten seiner vierzig erhabenen Großscheichs, eine Geschichte, die zur Zeit des Propheten (s) beginnt und deren Verlauf ein Zeugnis dafür abgibt, daß die spirituelle Macht der „rijâl allâh“, der Propheten, der Heiligen und Gottesdiener, bis in die Gegenwart hineinreicht und auch heute wirksam ist.
Ob ein im tiefsten Keller angeketteter Scheich, sich zum Gebet immer wieder an die Erdoberfläche in den Hof des Gefängnisses begibt, was seine russischen Wärter in den Wahnsinn treibt, ob Hunde, Katzen und Greifvögel Schüler eines Scheichs waren, die zu dessen Beerdigung in einer langen Schlange seinem Leichnam folgen (vgl. S. 198), ob es um die sichere Durchquerung eines lebens­gefährlichen Kriegsgebietes geht oder um einen kleinen Wurm, der von Sheikh Abu Muhammad al-Madanî erst befreit werden muß, bevor das Dorf die heilige „Nacht der Macht“ begehen kann (vgl. S. 277 f.), immer wieder wird der Leser von der Schönheit im Charakter solcher Leute zutiefst beeindruckt sein, die wir „Heilige“ nennen. Und es gilt die Einsicht Scheich Sharafuddîn ad-Dâghistânîs: „Wenn über die Heiligen und ihr Leben berichtet wird, zerspringen die Sünden der Zuhörer wie Glas.“
Und Hunderttausenden normaler Muslime gilt zum Beispiel der letzte in der Kette dieser Heiligen, Sheikh Muhammad Nazim al-Haqqânî, der auf Zypern lebt, nicht nur nicht als “Dunkelmann”, wie es im Jargon des Rezensenten heißt, sondern als strahlender Stern am Himmel. Ein schönes Beispiel für die Hochschätzung dieses wunderbaren Menschen durch Alt und Jung und Arm und Reich sind Besuche von Menschen aus allen Teilen der Welt, auch von einflußreichen Persönlichkeiten oder Würdenträgern aus verschiedenen Staaten, beispielsweise von Mitgliedern des Königshauses von Jordanien oder jüngst der Besuch seiner Exzellenz General Musharrafs, des ehemaligen Präsidenten Pakistans, der dem Sheikh den Treueeid (bay‘a) geleistet hat, eine umwerfend erquickende Begegnung, die filmisch im Internet – (( •••)) – bezeugt ist.   Schade, daß der Rezensent unter dem Schema innen/außen viel zu sehr politischen und historischen Fragen oder bloßem Hörensagen gefolgt ist, statt den Mut aufzubringen, einmal den wirklichen Islam und das Heilige in den Blick zu nehmen, das ihm eignet, es wenigstens zu versuchen.
Salim E. Spohr Lympia (Zypern)
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