Hat Wikipedia sich bei naturwissenschaftlichen Themen im Laufe der Zeit einen exzellenten Ruf erworben, steht die Online-Enzyklopädie mit Blick auf gesellschaftspolitische Fragen keineswegs vergleichbar gut da. War sie jüngst doch nachhaltig in Verruf geraten, als ihre Verwalter sich dem Anliegen Hunderter von Usern widersetzt hatten, ein ehrherabsetzendes Statement über den Schweizerischen Historiker Dr. Daniele Ganser zu löschen, der es gewagt hatte, in Sachen 9/11 einen Forschungsbedarf zu konstatieren, so konnten Markus Fiedler und Frank-Michael Speer in ihrem Film „Die dunkle Seite der Wikipedia“ unausweichliche Argumente dafür vorbringen, daß die Verantwortlichen eines Wikepedia-Eintrags dringend unter ihren Klarnamen agieren müssen, wenn anders Wikipedia nicht im Sumpf von Manipulation, Korruption und Anmaßung versinken soll. Daß autokratische Meinungsmache auch und ganz besonders auf dem Felde der Religionswissenschaft bei Wikipedia dumpfe Blüten treibt, zeigt sich am Fall des Eintrages zum Barnabas-Evangelium, wo seit Jahren ein evangelikales Netzwerk verhindert, daß eine seit zweihundert Jahren akribisch betriebene wissenschaftliche Forschung *) dort auch nur in Ansätzen berücksichtigt wird. Wir danken Daniel Alexander Erhorn für die folgende Analyse.
Das Barnabasevangelium in der Wikipedia
Ein Beispiel pseudonymer Meinungsmanipulation im Felde der Religionswissenschaft
von Daniel Alexander Erhorn
Im Rahmen wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Barnabasevangelium war mir vor Jahren schon der schlechte Zustand des deutschen Wikipedia-Artikels zu diesem Thema aufgefallen, der im Unterschied zu seinem englischen oder französischen Pendant nicht nur sehr lückenhaft war, sondern auch einen tendenziösen christlich-apologetischen Anstrich hatte, der sich über Jahre hinweg auch nie änderte.
So listet der Artikel sehr ausführlich die „Hauptargumente gegen eine Frühdatierung“ auf, verliert jedoch kein einziges Wort über die von einschlägiger Forschung vorgebrachten Argumente für eine dem Evangelium zugrundeliegende Grundschrift aus frühchristlicher Zeit. Fehlenden Quellenangaben zum Trotz konnte eine kurze Google-Suchanfrage unter dem Stichwort „Barnabasevangelium“ die Herkunft jener vorgeblichen „Hauptargumente“ klären, fand sich unter den Suchergebnissen doch ein Text, der 2004 vom „Institut für Islamfragen“ herausgegeben worden war.
Suggeriert der Name eines „Instituts für Islamfragen“, es handele sich bei ihm um eine akademische Einrichtung, welche unabhängige und objektiv-wissenschaftlich begründete Informationen über den Islam bereitstellt, so erweist sich dies als Täuschung, wenn als Träger dieser Einrichtung die „Evangelischen Allianzen in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz“ benannt werden, deren Dachorganisation das evangelikale Missionsnetzwerk „World Evangelical Alliance“ (Weltweite Evangelische Allianz) mit Sitz in New York ist, eine Organisation, die beispielsweise einen Lobbyisten für die Vertretung ihrer Interessen am Deutschen Bundestag unterhält.
Deutlich gesagt, ergibt sich schon hier der dringende Verdacht, eine evangelikale Mafia habe durch Leute ihres Vertrauens maßgeblichen Einfluß auf die Gestaltung jenes Wikipedia-Artikels zu einem der heißesten bibelkundlichen Themen genommen, das seit den Tagen John Tolands und Gotthold Ephraim Lessings nicht aufgehört hatte, hochkarätige Forscher auf der ganzen Welt in seinen Bann zu schlagen – siehe unten den Abriß der Wirkungsgeschichte *).
Die Verfasserin des Artikels, Christine Schirrmacher, ist neben ihrer Tätigkeit als habilitierte Islamwissenschaftlerin an der Universität Bonn auch Leiterin des „Instituts für Islamfragen“. Ihr Mann, Thomas Schirrmacher, ist u.a. Vorsitzender der Theologischen Kommission der weltweiten Dachorganisation „World Evangelical Alliance". Auf dem katholischen News-Portal kath.net lesen wir über weitere von Christine Schirrmacher bekleidete Ämter, gehört sie doch „… zum Kuratorium der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) der EKD, sitzt im zwölfköpfigen Wissenschaftlichen Beirat der Bundeszentrale für politische Bildung und im Beirat des Bundes Deutscher Kriminalbeamter.“
Christine Schirrmacher profiliert sich immer wieder durch hetzerische Statements gegen den Islam. Erst im Jahre 2015 provozierte sie auf rp-online mit der Aussage, der Islam müsse sich von Mohammeds Beispiel verabschieden, wenn er sein Gewaltproblem lösen wolle.
Liest man Schirrmachers Artikel über das Barnabasevangelium auf der Seite des „Instituts für Islamfragen", so finden sich dort alle im Wikipedia-Artikel angeführten Argumente gegen eine Echtheit des Evangeliums wieder, welche ihrerseits, wie die Recherche ergab, Schirrmachers Dissertation entnommen waren, die in ihrem zweiten Teil die christlich-muslimische Auseinandersetzung mit dem Barnabasevangelium behandelt.
Vergleicht man den „Instituts“-Artikel mit dem entsprechenden Abschnitt ihrer Dissertation, so fällt auf, daß letztere in ihrer Darstellung der Forschungsgeschichte zum Barnabasevangelium neben den Argumenten gegen eine Frühdatierung der Schrift auch die Argumente für eine solche berücksichtigt, die der „Instituts“-Artikel gänzlich ausspart. Konkret handelt es sich hierbei um die Arbeiten Shlomo Pines’, Marc Philonenkos und Luigi Cirillos, welche allesamt zumindest in Teilen eine jüdische bzw. judenchristliche Grundschrift aus frühchristlicher Zeit im Barnabasevangelium bestätigt sahen. Hier wird die Person Schirrmacher also klar in zwei verschiedenen Rollen wahrnehmbar: einerseits als Lehrbeauftragte einer staatlichen Universität, welche in ihrer Darstellung ein für wissenschaftliche Arbeiten notwendiges Maß an Objektivität wahrt, andererseits als Vertreterin eines evangelikalen Netzwerkes, das nur die christlicher Apologetik nützlichen Informationen herausstellt, die unbequemen aber unterschlägt. [vgl.: Christine Schirrmacher: Mit den Waffen des Gegners. Klaus Schwarz Verlag: Berlin, 1992 – Argumente gegen eine Frühdatierung dort, S. 244-253; Argumente für eine Frühdatierung (Pines, Philonenko, Cirillo) dort, S. 324 ff.]
Schirrmacher entlarvt sich so als knallharte christliche Apologetin, welche die in ihrer Dissertation zumindest noch ansatzweise referierten Argumente, die für einen antiken Ursprung des Barnabasevangeliums sprechen, in ihrem Artikel des „Instituts für Islamfragen“ dem interessierten Leser aber vorenthält. Ist ihre Dissertation mit den dort diskutierten wissenschaftlichen Ansätzen zum Barnabasevangelium nur einem kleinen Kreis von Fachleuten vertraut, steht ihr Artikel des „Islaminstituts“ jedem beliebigen Internetnutzer zur Verfügung, der sich über das Barnabasevangelium informieren möchte. Daß auf diese Weise die öffentliche Meinung unter dem Vorwand einer objektiv-wissenschaftlichen Darstellung jenes „Instituts“, dessen Leiterin Islamwissenschaft an der Uni lehrt, in eine von christlich-fundamentalistischen Kräften gewünschte Richtung manipuliert wird, ist angesichts des Unterschiedes beider Texte offenkundig.
Der Wikipedia-Artikel über das Barnabasevangelium führt nun allesamt genau die Argumente des tendenziösen Artikels der evangelikalen Missionsseite Frau Schirrmachers ins Feld, kein Wort aber fand sich dort aus ihrer wissenschaftlichen Veröffentlichung.
Zuerst hatte ich gedacht, eine solch irreführende Darstellung auf der Wikipedia-Seite habe ihren Platz dort nur versehentlich gefunden und sei bloß mangelnder Fachkenntnis der Wiki-Autoren über die Forschungsgeschichte des Barnabasevangeliums geschuldet. Dies – so meine naive Annnahme – wäre ja insofern auch unproblematisch, als es zum Konzept der Online-Enzyklopädie gehört, daß an den Artikeln ja jeder Internetnutzer auch bei geringerer Kenntnis mitarbeiten kann, bis ein Artikel irgendwann, vollständig, objektiv und differenziert ausgearbeitet, seine Reife erlangt. So machte ich mich frischen Mutes ans Werk, ein paar grundlegende Korrekturen anzubringen, und nahm erst einmal einen Satz aus dem französischen Wikipedia-Artikel zum Barnabasevangelium heraus, der die von mir vermißten Informationen prägnant zusammenfaßt, übersetzte ihn ins Deutsche und fügte ihn in den deutschen Artikel ein. Es handelte sich dabei um die folgende völlig harmlose Passage: "Cet Évangile est généralement considéré par les chercheurs comme une «fraude pieuse», tardive et pseudépigraphique; cependant, quelques-uns suggèrent qu'il pourrait contenir quelques restes d'un travail apocryphe précédent, créé pour se conformer à l'islam, ou peut-être judéo-chrétien (Cirillo) gnostique (Ragg), ébionite (Pines) ou diatessaronique (Joosten mais aussi Cirillio) [...]".
„Dieses Evangelium wird von den Forschern im allgemeinen als späte pseudepigraphische "fromme Fälschung" betrachtet. Einige unter ihnen weisen jedoch darauf hin, daß es möglicherweise Reste eines früheren apokryphen Werkes enthält, das zusammengestellt wurde, um mit dem Islam in Einklang zu stehen oder vielleicht judenchristlichen (Cirillo), gnostischen (Ragg), ebionitischen (Pines) oder diatessaronischen (Joosten, Cirillo) Ursprungs war".
Als ich im Anschluß daran die entsprechenden Belege der jeweiligen wissenschaftlichen Arbeiten als Fußnote nachtragen wollte, war mein Satz bereits von einem sogenannten „Sichter“ entfernt worden. Denn Änderungen von unangemeldeten Nutzern und Wikipedia-Neulingen müssen durch einen Sichter bzw. Administrator bestätigt und freigegeben werden. Dies ist aus Gründen der Qualitätssicherung sicherlich sinnvoll und notwendig, wenn nicht irgendwer ungeprüft an ihnen herumbasteln können soll. Doch das Tempo, mit dem meine Ergänzung eben in Sekundenschnelle aus dem Artikel entfernt wurde, überraschte mich doch. Die Begründung des Sichters für seine blitzschnelle Beseitigung meines Satzes war kurz und sachlich: „Keine Quellenangaben“. Man gab mir also nicht einmal die Zeit, meine Quellenangaben in Ruhe hinzuzufügen. Das ärgerte mich und zwar um so mehr, als ich wußte, daß dieser Artikel in puncto Quellenangaben ein wahres Niemandsland ist, enthält er doch gerade einmal ganze 3 (in Worten: drei) Belege. Nun gut, ich machte also die Entfernung wieder rückgängig und belegte jeden einzelnen der aufgeführten Autoren. Diese Änderung blieb zwei Wochen ungesichtet. Erneut wunderte ich mich darüber, daß der Sichter entgegen seiner ersten überschnellen Entfernung meiner Änderung sich dieses Mal um so mehr Zeit für seine Reaktion ließ. Doch mein Warten wurde nicht belohnt. Erneut wurde meine Änderung – diesmal nach zweiwöchiger Wartezeit – von demselben Sichter rückgängig gemacht, und dieses Mal mit einer detaillierteren Begründung:
„Schleichende Übernahme beendet, Formulierungen neutralisiert (es gibt keine seriösen 'Verfechter der Echtheit').“
„Schleichende Übernahme beendet ...“ – und dies als Reaktion auf einen Satz, der seit langem zum ersten Absatz des französischen Wikipedia-Artikels über das Barnabasevangelium gehört. Und überhaupt: Was meint unser Sichter eigentlich mit „Echtheit“? Diese wurde von mir doch gar nicht behauptet, sondern lediglich die Möglichkeit einer Frühdatierung der Schrift, was ganz und gar nicht dasselbe ist.
Nun war ich gänzlich desillusioniert, verrät dieser Kommentar doch eine ganze Menge über die Absichten des ano- bzw. pseudonymen Sichters. Bislang war mir nicht bekannt gewesen, daß man Wikipedia-Artikel „übernehmen“ konnte, ja, daß sie überhaupt jemandem „gehören“ könnten. Der unbekannt bleibende Sichter agiert offenbar aus dem Selbstverständnis heraus, die Deutungshoheit über den Artikel und die in ihm thematische Sache zu besitzen und verteidigen zu müssen. Dies ist angesichts einer komplizierten und fachwissenschaftliche Kenntnisse erfordernden Forschungsgeschichte *) ungeheuerlich und eine Anmaßung. Und es ist ganz klar: Jener unter dem Namen „Jordi“ agierende Pseudonymus verstößt in krasser Weise gegen das gerade bei kontroversen Themen geforderte Wikipedia-Prinzip eines „neutralen Standpunktes“: „Erst diese neutrale Sichtweise ermöglicht es, mehrere unvereinbare Standpunkte zum gleichen Thema richtig zu handhaben. Sie setzt natürlich voraus, daß die Ansichten der Mehrheit angemessen dargestellt werden. Sie verlangt aber auch, daß die Meinungen von Minderheiten zu Wort kommen, sofern sich dafür eine zuverlässige Quelle finden läßt. Die Beschreibung soll einen neutralen Ton haben, und der Anteil der einzelnen Standpunkte am Gesamtumfang soll ihre jeweilige Relevanz widerspiegeln. Daher sollte Text nicht entfernt werden, nur weil es sich dabei um die Darstellung einer abweichenden Meinung handelt [...]."
Wer bereits die neutrale Information über eine wissenschaftliche Forschungsmeinung als „Übernahme“ einstuft und international anerkannte Wissenschaftler aus dem hohlen Bauch heraus als „unseriös“ verunglimpft, erfüllt nicht nur das Gebot des „neutralen Standpunktes“ nicht, er muß sich auch die Frage gefallen lassen, wie es kommt, daß er eindeutig als falsch widerlegte Behauptungen jener evangelikalen Pressure Group mit Zähnen und Klauen verteidigt. Liegt es an einem Mangel an Unteilskraft des Sichters „Jordi“, den die Leute einem Zeugnis Immanuel Kants gemäß „gemeiniglich Dummheit nennen“, oder ist er mit jener evangelikalen Mafia gar verbandelt? – Im ersten Falle ist er nur geistig überfordert und sollte von Wikipedia deshalb abgezogen werden, im zweiten wäre er korrupt und sollte von Wikipedia abgezogen und rechtlich belangt werden.
Die Autoren des im Vorspann oben genannten Films „Die dunkle Seite der Wikipedia“ haben uns allen ein schönes Werkzeug bereitgestellt, das unter dem Namen "Wikibu" eine aufschlußreiche Überprüfung der Qualität von Wikipedia-Artikeln auf statistischer Grundlage erlaubt. Bei unserem Artikel sieht es so aus.
Wer in das Adreß-Feld einmal "Barnabas Evangelium" einträgt, erhält diese Übersicht:
Hier erfährt man, daß der Inhalt dieses Artikels „weniger gut durch Quellenangaben belegt“ ist, was mir ja auch schon aufgefallen war. Aus diesen und anderen Gründen erreicht dieser Artikel von zehn möglichen Punkten nur fünf (5/10), was allein eine sich schon statistisch ergebende schlechte Qualität bezeugt. Bei einer näheren auch inhaltlichen Betrachtung zeigt sich das ungeheure Maß einer geradezu skrupellosen Unterschlagung von Erkenntnissen durch jenen Herrn „Jordi“ allein schon an dem in der Anlage beigefügten Abriß der Forschungsgeschichte *) zum Thema. Angefügt wurden auch ein paar Bemerkungen des BARNABAS PROJEKTES zur inhaltlichen Einführung **) in eines der spannendsten bibelkundlichen Themen.
Nachdem ich im Netz nach ähnlich gearteten Erfahrungsberichten Ausschau gehalten hatte, war ich auf schon oben erwähnte Dokumentation zum Thema Meinungsmanipulation bei Wikipedia aus dem Jahre 2015 gestoßen, in der die Autoren Markus Fiedler und Frank-Michael Speer an dem Artikel über den Schweizer Historiker Daniele Ganser aufzeigten, wie vermittels Wikipedia von anonym agierenden Interessengruppen die öffentliche Meinung manipuliert wird. Dies sei, so betonen die Autoren, sicherlich nicht immer der Fall, gebe es doch – vor allem im Bereich der Naturwissenschaften – exzellente informative Artikel innerhalb der Online-Enzyklopädie. Doch zeigt ihr Film zugleich in schöner Klarheit auf, wie gefährlich die anonyme und vor allem hierarchische Struktur der Wikipedia sein kann, wenn dort die falschen Leute in geschützter Anonymität bzw. unter dem Deckmantel ihres Pseudonyms unhaltbar tendenziöse, ja verleumderische Inhalte verteidigen. Vorbei sind offenbar die Zeiten, in denen Fachleute mit ihrem Klarnamen für einen Lexikoneintrag geradestanden. Dabei ist mangelnde Fachkenntnis vieler Autoren noch das geringere Übel. Das Hauptproblem liegt in jener Anonymität der Autoren begründet. Sie ist die eigentliche Sicherheitslücke, die es ermöglicht, daß Artikel in eine gewünschte Richtung manipuliert werden. Die Wikipedia wäre daher gut beraten, diese Anonymität schnellstmöglich aufzulösen und nur noch Autoren mit Klarnamen zuzulassen. Hier geht es längst nicht mehr um die internen Spielregeln einer Internet-Community, sondern um die Deutungshoheit menschlichen Wissens, zumal Wikipedia mittlerweile die Lexika in Buchform fast vollständig verdrängt hat und alle Welt bei ihr Auskunft sucht. Hier besteht ein besonders dringlicher Handlungsbedarf, der wirklich jeden von uns angeht. Denn ob wir es wissen oder nicht: Wir alle sind (leider) Wikipedia.
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*) Die Traditionslinie, welche im italienischen Manuskript des Barnabasevangeliums einen Nachfahren eines antiken ebionitischen Evangeliums sah, beginnt mit John Tolands „Nazarenus“ (1718) und wurde von Shlomo Pines in seiner Studie „The Jewish Christians of the Early Centuries according to a new Source“ (Jerusalem: The Israel Academy of Sciences and Humanities Proceedings 1966, S. 70–73) und Marc Philonenko („Une tradition essénienne dans l’Évangile de Barnabas“. In: Mélanges d’histoire des réligions offerts à Henri-Charles Puech. Paris: Presses Universitaires de France 1974, S. 191–195) wieder aufgenommen. Luigi Cirillo bestätigte schließlich in seiner umfangreichen Dissertation über das Barnabasevangelium erneut den judenchristlichen Ursprung einer dem Evangelium zugrundeliegenden antiken Grundschrift (vgl. Luigi Cirillo/Michel Frémaux: L’Évangile de Barnabé. Recherches sur la composition et l’origine. Paris: Éditions Beauchesne 1977). Selbst der Neutestamentler Bernd Kollmann hielt es in neuerer Zeit für möglich, daß das italienische Barnabasevangelium ein Nachfahre jenes antiken Barnabasevangeliums sei, das in den alten Kirchenindexen „Decretum Gelasianum“ (5./6. Jhd.) und „Verzeichnis der 60 Bücher“ (7. Jhd.) erwähnt wird. Es liege, so Kollmann, „durchaus im Bereich des Möglichen, wenn auch nicht Beweisbaren, daß dieses späte pseudepigraphische Werk auf der Grundlage des antiken Barnabas-Evangeliums entstand oder zumindest Teile daraus miteingeflossen sind.“ (vgl. Bernd Kollmann: Joseph Barnabas. Leben und Wirkungsgeschichte. (SBS 175) Stuttgart: Verlag katholisches Bibelwerk 1998, S. 70).
Eine indirekte Wirkungsgeschichte des Barnabasevangeliums beginnt ebenfalls mit Tolands „Nazarenus“ (1718) und führt über Gotthold Ephraim Lessings „Neue[r] Hypothese über die Evangelisten als blos menschliche Geschichtsschreiber betrachtet“ (1778) und Johann Gottfried Eichhorns „Urevangeliumshypothese“ (Vgl. Johann Gottfried Eichhorn: Über die drey ersten Evangelien. Einige Beiträge zu ihrer künftigen kritischen Behandlung. In: ders.: Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur, Band V, 5–6; ders: Einleitung in das Neue Testament, Band I. Leipzig: Weidmannische Buchhandlung 1804). Indirekt ist diese Traditionslinie deshalb, weil Lessing bei der Formulierung seiner Urevangeliumshypothese nicht direkt auf das Barnabasevangelium eingeht, wohl aber auf Tolands „Nazarenus“. Eichhorn baut Lessings Theorie schließlich weiter aus.
**) Zur Einführung (siehe genauer: DAS BARNABAS-PROJEKT):
Anfang des 18. Jahrhunderts tauchte ein kleines in altem Italienisch geschriebenes Büchlein in Amsterdam auf, das unter Gelehrten für einiges Aufsehen sorgte. Denn es beanspruchte für sich, das „wahre Evangelium Jesu Christi“ zu sein, das im Gegensatz zu den uns bekannten Evangelien Traditionen bot, die keinerlei Parallele in anderen christlichen Schriften hatten und dennoch einem berühmten Mitglied der Urgemeinde, dem Reisebegleiter des Paulus, Joseph Barnabas, zugesprochen wurde. Die Inhalte dieses „Evangeliums nach Barnabas“ stehen denjenigen der jüdischen und der muslimischen Tradition näher als dem heutigen Christentum, weswegen diese Schrift vor allem von Muslimen als eine Bestätigung ihrer Religion angesehen wurde. Die christlichen Gelehrten versuchten ihrerseits, die Echtheit der Schrift zu widerlegen. So entbrannte eine vorwiegend apologetisch geführte Debatte, die bis in die Gegenwart andauert. Eine unverstellte Annäherung war selten möglich.
Das Barnabasevangelium ist zwar schon von vielen Wissenschaflern untersucht worden – allein, wissenschaftlich untersucht worden ist es selten. Der spanische Islamwissenschafler Míkel de Epalza († 2008) unterschied seinerzeit drei Kategorien von wissenschaftlichen Arbeiten über das Barnabasevangelium (vgl. M. de Epalza, „Études hispaniques actuelles sur l'évangile islamisant de Barnabé.“ In: Al-Masâq, Studia Arabo-Islamica Mediterranea, Vol. 1, 1988, 33–38). Entweder halten sie das italienische bzw. das spanische Manuskript für das Original und somit für eine komplette Fälschung (so etwa de Epalza selbst, Luis F. Bernabé Pons, Christine Schirrmacher, Jan Slomp oder Gerard Wiegers), oder sie sehen das Barnabasevangelium als unverfälschtes Zeugnis des Urchristentums und einzige wahre Quelle von Jesu Lehre an (so M. H. Durrani, F. A. Fadhil, M. A. Hamayat, A. Mawdudi, Ahmad Tahir, M. T. Ushmani oder M. A. Yusseff). Die meisten Autoren fallen in diese beiden Kategorien, je nachdem, ob sie den christlich-apologetischen oder den muslimisch-apologetischen Standpunkt vertreten. Die dritte Kategorie von Forschern hingegen sieht in dem auf uns gekommenen Barnabasevangelium die Endredaktion einer Grundschrift, deren Wurzeln zum Teil bis in die frühchristliche orientalische Welt zurückreichen (so etwa Shlomo Pines, Marc Philonenko, Luigi Cirillo oder Rodney Blackhirst).
Die Autoren dieser Seite sind fest davon überzeugt, daß allein dieser dritte Weg den Anspruch von Wissenschaftlichkeit haben kann. Die apologetisch argumentierenden christlichen und muslimischen Autoren büßen in ihrer dogmatischen Befangenheit zumeist ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit ein. Die Annahme von redaktionellen Schichten, sonst eine gängige Praxis innerhalb der historisch-kritischen Exegese, scheint in bezug auf das Barnabasevangelium ein Tabu darzustellen. Dieses weiter aufzubrechen und die tiefen archaischen Schichten dieser Schrift endlich freizulegen, haben sich die Autoren dieser Seite zum Ziel gesetzt – ein nicht leicht zu bewältigendes Unterfangen, wohlgemerkt! – Was das Verhältnis von Christentum und Islam angeht, sind drei grundsätzliche Themenkomplexe im Barnabasevangelium angesprochen, die auch der Koran herausstellt:
1. Die scheinbare Kreuzigung Jesu (Doketismus)
2. Jesu Ankündigung eines weiteren Propheten nach ihm
3. Die Ablehnung der Göttlichkeit Jesu bzw. die Betonung seines Menschseins
Diese Seite versteht sich zunächst als eine Quellensammlung zu diesen drei Bereichen. Erst in einem späteren Schritt soll in einer Auswertung dieses Materials eine umfassende historisch-kritische Analyse des Textes einsetzen. Die örtliche und zeitliche Einordnung der Schrift wurde von denjenigen Autoren, die dies wagten, viel zu voreilig angegangen. Sie unterschätzten die Vielschichtigkeit der Traditionen, die nicht in einem zehn- bis zwanzigseitigen Essay einer theologischen Zeitschrift abgehandelt werden können. Hierzu bedarf es einer umfangreichen Studie, beginnend mit einer sorgfältigen textkritischen Sichtung jedes einzelnen Abschnittes.
Darüber hinaus soll der interessierten Leserschaft Quellenmaterial zum Judenchristentum, zur Geschichte der frühesten neutestamentlichen Kanonbildung, zur Traditions-, Forschungs- und Wirkungsgeschichte des Barnabasevangeliums und zur Person des Apostels Barnabas und der ihm traditionell zugesprochenen Schriften bereitgestellt werden.]]>
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